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  • Botlove – Talking to machines

    October 12th, 2025

    Wir kennen sie alle: die harmlosen Beispielanfragen, die am Anfang eines neuen KI-Chats aufpoppen. „Spielideen für eine Kinderparty?“, „Ausflugstipps fürs Wochenende?“. Unbescholten. Einladend. Aber vielleicht auch ein wenig irreführend, denn die wirklichen Fragen, die eingetippselt werden lauten längst anders: „Habe ich eine Depression?“, „Ist meine Beziehung toxisch?“, „Geht meine Firma bankrott?“ Man hört es im Büro, an der Bushaltestelle, beim Familienbrunch: “Ich hab ChatGPT gefragt…”.

    Es ist Usus geworden: Menschen sprechen mit KI Chatbots über ihr Leben. Über den Alltag, über Beruf, Entscheidungen und Belastungen. Sie suchen Rat, holen sich Coaching, wägen Optionen ab. KI ist keine bloße Antwortmaschine, sie ist Beraterin, Resonanzraum. Weil wir alle längst erkannt haben, wie gut sie ist, wie plausibel die Antworten, wie stimmig die Ergebnisse. Viele befinden sich bereits in einem intensiven, wenn nicht sogar intimen Austausch mit den Bots ihres Vertrauens. Dass insbesondere junge Menschen ChatGPT bereits als Lebens-, Mental- oder auch Beziehungscoach nutzen, ist längst kein Geheimnis mehr. Und alles deutet darauf hin: Das ist erst der Anfang.

    Viele zukünftige Bot-Angebote werden plump sein, sich schleimig anbiedern, laut, schrill oder werbelastig sein. So wie Meta es vorhat. Who else. Clickbait AI. Aber es werden auch seriöse, hochwertige Systeme entstehen. Gut gestaltet, ernstzunehmend und transparent. 

    Wirkung und Nebenwirkung

    Der Dialog mit einer Maschine ist ein Gespräch ohne soziale Bühne. Ein Gespräch im digitalen Hinterzimmer. Nur wir und unsere KI-Begleiter. Die digitale Ratgeberin. Die Stimme im Ohr. Es fühlt sich an wie Vertrauen. Es, das KI Dings, ist bequem, klug, ruhig und einfühlsam und liefert präzise Antworten, kennt sich aus, im Grunde mit allem.

    Wie so oft steckt beides drin: Möglichkeiten und Risiken. Forschungsarbeiten zeigen, welche soziale und psychologische Auswirkungen der Dialog mit KI-Systemen haben kann. In universitären Studien und Feldversuchen wurde belegt, dass Chatbots mit menschenähnlichem, empathischem Design wie zB ChatGPT oder Replika, emotionale Unterstützung bieten, Einsamkeit lindern und Selbstreflexion fördern können. In einer randomisierten Studie mit fast 1.000 Erwachsenen über 28 Tage, sank die soziale Angst, während das Gefühl sozialer Unterstützung anstieg. Klingt nicht schlecht. Das wollen wir. 

    Andere Studien zeigen: Gerade junge Nutzer*innen bauen oft starke emotionale Bindungen auf, die reale Beziehungen zum Teil ersetzen. Beispiele, wie jene von KI Bots, die Kinder in intime Gespräche verwickeln oder ihre Suizidgedanken schönreden statt zu alarmieren, sind durch die Medien gegangen. Dieselben Funktionen, die Nähe erzeugen, die eine Unterstützung sind, können zu Überbeanspruchung, psychischer Belastung und einer Abkehr vom menschlichem sozialen Kontakt führen. Das klingt alles nicht so gut. Zwar sagen Expert*innen, jede Form der Unterstützung hilft – also besser ein KI-Bot als gar kein Zuspruch. Aber, der langfristige positive Nutzen hängt stark davon ab, ob es neben der KI auch menschliche Begleitung gibt und wie vulnerabel die Nutzer*innen sind. 

    Botlove: Wir lieben unsere KIs

    Ein Blick auf die Testimonals auf https://replika.ai/ genügt: Menschen empfinden für ihre Bots. Sie sind keinen kalten Algorithmen für uns, mit Hilfe derer wir funktionale Dinge für unsere Arbeit, die Terminbuchung bei der Arztin oder die Einladung für die Vereinsfeier einfacher, schneller, besser aufs Papier, aus dem System und in das Postfach bekommen.

    Wir sind an der Schwelle zu Botlove, oder schon drüber, und es ist eine neue Ära der Beziehung zwischen Menschen und Maschinen. Sei es eine KI-Psychologin auf unserem Handy, ein Ersatzfreund am Laptop oder die Management Beraterin am Firmenserver . Wir alle werden unsere KI Partner*innen für verschiedene Lebenslagen haben, sie hegen und pflegen. Und zwar gleich mehrere davon.

    Es hört sich gar nicht so übertrieben an, sondern eher wahrscheinlich: In Zukunft werden KI-Systeme in vielen unserer Lebenswelten als Berater*innen oder Buddies präsent sein. Mentale Gesundheit. Karriere. Fitness. Beziehung. Finanzen. Für manche wird es ein Freund oder Freundin sein, für manche ein emotionsbefreiter Handlanger, aber auf jeden Fall werden wir ihnen vertrauen, sie mögen, schätzen und vielleicht sogar ein bisschen lieben.

    Am Ende wird es nicht darum gehen, ob wir mit künstlicher Intelligenz sprechen – sondern wie. Es kommt darauf an, diese neuen Formen des Dialogs so zu gestalten, dass sie einen positiven Umgang fördern: Emotionale Unterstützung, Selbstreflexion, Nähe im digitalen Raum. Schon jetzt zeigen sich enorme Potenziale – in der psychologischen Begleitung, in der schulischen Betreuung, in der Gesundheitsversorgung, überall dort, wo Zuhören, Verstehen und Resonanz gefragt sind. Hier öffnet sich ein neues Feld, das uns noch lange beschäftigen wird und das wir aktiv gestalten sollten.

    Entscheidend ist, dass wir die positiven Effekte stärken und die destruktiven bewusst vermeiden. Dass wir Systeme entwickeln, die Mitgefühl simulieren, ohne Vertrauen zu missbrauchen. Die Nähe ermöglichen, ohne Abhängigkeit zu erzeugen. Wenn uns das gelingt, dann ist das Gespräch mit der Maschine nicht das Ende menschlicher Beziehung, sondern vielleicht ihr nächster Schritt.

  • Touch, Swipe, Move, von der Straße in den Stream: Wie Stadtleben und Smartphonerealität verschmelzen

    February 7th, 2025

    In der digitalen Ära ist unsere Stadt mit ihrer gewachsenen Struktur, den liebgewonnenen Orten und den Distanzen zwischen ihnen, den Stadtteilen mit ihren Grenzen, nicht mehr die alleinig ordnende Struktur, die unser Leben, unser Arbeiten und unsere sozialen Beziehungen in Bahnen lenkt. Das Digitale ist zumindest gleichbedeutend. Ein Plädoyer Verkehr, Infrastruktur und Mobilität immer und nur gemeinsam mit Digitalem zu denken.

    Nehmen wir Wien als Beispiel: Die Stadt blüht in ihren charmanten Gassen und Grätzln. Ja eh, nach wie vor kann man die große Liebe (Achtung!), oder den nächstbesten Schlawiner (Obacht!), auf der Straße treffen, oder irgendwie beides in einem (besondere Vorsicht!). Natürlich lebt und arbeitet man mit Menschen am gleichen Ort und hat sie gern, ok, manchmal auch notgedrungen, um sich. Gleichermaßen aber, und immer mehr, passiert all das in den unzähligen, digitalen Netzwerken, die in und aus unseren Smartphones sprudeln.

    Die digitale Vernetzung bringt eine bemerkenswerte Fluidität in die Stadt und in unsere alltäglichen Interaktionen. Diesen Moment noch im Home-Office, im anregenden Gespräch mit Kolleg*innen aus dem Finanzausschuss, toll, im nächsten Augenblick schon im Chat mit Freund*innen wegen dem genauso wichtigen Faschingsgschnas. Das alles, ohne auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen, oder sich in die U-Bahn bequemen zu müssen. Stattdessen Netzwerkhopping von Chat zu Chat, quick quick quick und in Windeseile. 

    Flüsse, die Stadtteile von einander trennen, Bahnstrecken, die quer durch Bezirke schneiden, oder diese verbinden, oder die Büromauern, die uns für acht Stunden einkasteln: Stadt ist heutzutage immer weniger geprägt von räumlichen Strukturen, sondern von digitalen Netzwerken, in die wir uns einbauen und ausklinken, die auftauchen und wieder verschwinden. Genau das ist gemeint mit Fluidität: Die spontane, unmittelbare digitale Interaktion, jenseits von Grätzln, Grenzen oder geographischen Gebieten. 

    Das Öffinetz, die Straßen und Radwege teilen sich die Infrastrukturbühne mit den digitalen Netzwerken, die unsere sozialen Interaktionen und Bewegungen genauso lenken. Unsere Mobilität in der Stadt ist nicht mehr nur eine Frage des physischen Vorankommens, sondern auch jener der digitalen Konnektivität und dem online Status von Freunden, Friends und ihren Benefits. 

    Diese digitalen Netzwerke sind eine zumindest gleichwertige Struktur, die unser städtisches Leben prägt. Die Handies in der Tasche und der Computer am Schoß sind die Tore und Schleusen dazu. Es ist der Zugang und die Nutzung dieser Infrastrukturen, die uns im Handumdrehen ein Netzwerk weiter spülen. Es braucht nur einen sanften Touch am Device deiner Wahl and off you go. Fließende, digitale Verbindungen, die ebenso schnell aufgebaut wie on-hold gestellt werden, entscheiden wie unsere Tage so laufen.

    Es sind die physischen und die digitalen Netzwerke, die wir durchwandern, die wir bedienen und auf die wir zugreifen, sie entscheiden mit, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, wie wir arbeiten und sozial sind. Und es sind die Algorithmen, die bestimmen, was gepushed, gepullt oder gecancelt wird.

    Es muss uns bewusst sein, wie sehr unsere digitalen Werkzeuge, die Netzwerke und Algorithmen dahinter, unsere Alltage und die damit verbunden Möglichkeiten und Erfahrungen prägen. Ob wir nun nach dem nächsten Carsharing Auto Ausschau halten, oder das Restaurant für unser nächstes Date suchen, oft ist entscheidend, aus welchem Netzwerk wir diese Information erhalten, was das Netzwerk über uns weiß, uns zeigen will, oder welcher Algorithmus uns diese Information vorkaut. Wir verlassen uns ohnehin darauf. Was in unserer unmittelbaren physischen Umgebung, also gleich um die nächste Ecke oder nur einen Häuserblock entfernt ist, ist nicht so wichtig.

    Unser Leben wird zu einer digital personalisierten Landschaft; geformt, selektiert und verstärkt von den digitalen Geräten in unseren Händen und Hosentaschen. Die Apps, Tools und digitalen Services sind wie magische Linsen, die uns Handlungsspielräume eröffnen und Einblicke in die verborgenen Ecken der Stadt gewähren. Sie entscheiden mit – nicht ausschließlich, aber doch zu einem gehörigen Anteil – was wir tun, wen wir treffen, was wir wahrnehmen und was nicht.

    Sie lassen uns auf der Suche nach der nächsten Bim, dem schnellen Snack, oder dem nächstbesten Lover auf eine gewisse Art und Weise über die Gassen hinaus und durch die Häuser hindurch blicken. Oder umgekehrt: Wenn der Algorithmus nicht will, kommen wir nie ans andere Ende der Stadt. Sorry, Transdanubien. 

    Digitale Netzwerke und Algorithmen mediieren, selektieren und leiten einen entscheidend großen Teil unserer tagtäglichen Interaktionen im Privaten und Professionellen. So fungieren unsere Smartphones als Torwächter, die entscheiden, welche tagtäglichen Dienstleistungen wir in Anspruch nehmen, welche Eindrücke wir mitnehmen, welche Freunde wir besuchen, oder welche Teile unserer Stadt wir erleben und welche eben nicht.

    Seien wir uns darüber bewusst: Wir nehmen unsre Umwelt und auch unsere Stadt sicher nicht nur, aber zu einem großen Teil durch digitale Werkzeuge wahr. Sie bestimmen unseren Handlungsspielraum mit. Und wie alles durch das man blickt, Fernglas, Sonnenbrille oder Kaleidoskop, verändern sie unseren Blick, verdrehen, vergrößern, verfälschen, verwaschen das eine und verklären oder heiligen das andere. Sie machen Dinge erreichbar und sichtbar, die man mit freien Auge hätte nicht sehen oder ohne Digital Tool nicht hätte erreichen können.

    Das Handy in der Hosentasche bestimmt zu einem großen Teil mit, wie wir unsere Umwelt, unsere Tage und letztendlich auch unsere eigene Stadt gestalten und erleben. Es beeinflusst wie wir uns fortbewegen, welche Orte und Stadtteile für uns erreichbar sind, welche uns in den Sinn kommen, und welche nicht. Der Verkehr, die Mobilität und die Straßen der Stadt stehen in Wechselwirkung mit den Netzwerken in unseren Apps, Tools und Websites. Das ist auch der Grund warum Digitales nicht getrennt von anderen Infrastrukturen gedacht werden sollte, sondern immer nur gemeinsam.

  • Digitaler Humanismus: Gestaltungsebenen zwischen Ethik und Code

    February 2nd, 2025

    Digitaler Humanismus – klingt schick, oder? Als hätte man die europäische Aufklärung trotz allgegenwärtigen Werkzeugen des Silicon Valley, denen ja trotz aller Nützlichkeit in manchen Fällen nix gutes nachgesagt wird, neu erfunden. 

    Wenn man genauer hinschaut, wird der Begriff schnell zum Chamäleon: Jeder versteht etwas anderes darunter und meistens bleibt er nebulös. Digitaler Humanismus – ein Begriff, der sowohl Versprechen als auch Unklarheit in sich trägt. Das kann durchaus ein Vorteil sein, weil es einfach ist, den Begriff zu verwenden und irgendwie eh fast jeder etwas damit assoziiert. Das wird aber zum Problem, wenn man vieles oder alles unter diesem Deckmantel verkauft und das ganze zum holen Marketingbegriff wird. Das neuerfundene, super fancy aber diffuse Biolabel der Digitalzene. 

    Damit es nicht soweit kommt, braucht es noch. Ja was eigentlich? Klar ist, zwischen Anspruch und Realität klafft eine Lücke. Digitalhuman klingt cool, aber wie bringt man es tatsächlich auf die Straße?

    Eine Einordnung, was diese philosophische Idee im Zuge der Gestaltung digitaler Systeme bewirken und wie man eigentlich damit arbeiten kann, täte gut.  

    Dieser Artikel versucht genau das: Den philosophischen Ansatz Digitaler Humanismus für die konkret Gestaltung digitaler Systeme greifbarer zu machen, indem er drei Ebenen aufzeigt, auf denen diese Denkweise im Zuge der digitalen Gestaltung zur Geltung kommt. Beispiele illustrieren dabei, wie Philosophie, Gestaltungsmethoden, Human-Centered Design und Co-Creation wirken, um auf Menschen fokussiert, digital human eben, zu gestalten. 

    Aber zu aller erst: What is it?

    Digitaler Humanismus startet mit einer simplen Idee: Der Mensch im Mittelpunkt. Dies klingt banal gut. Ja, wow. Aber, wer wäre sonst stünde im Mittelpunkt? Sind digitale Systeme nicht immer irgendwie für Menschen gedacht, um sie zu vernetzten, zu unterstützen, oder Informationen zu liefern? So lange es sich also nicht irgendwie um ein Softwareteil handelt, das alleinig anderer Software zuarbeitet oder eine Maschine steuert, könnte man ja fast sagen, fast jedes System fokussiert irgendwie auf den Menschen. Also, wie jetzt?

    Um ein digital humanes System, das kann eine App, ein digitales Gerät, eine Onlineplattform oder eine Internetdienst sein, von einem inhumanen zu unterscheiden, muss man die Absicht oder die Funktionsweise beleuchten und letztendlich auch wie es im Detail umgesetzt wird. Es adressiert – huch, jetzt wird es hochtrabend – die Gesamtheit des Menschen, seine Wünsche, Bedürfnisse, Werte, Rechte und Freiheiten. Es schafft Räume für individuelle Entwicklung und Handlungsfähigkeit. Klingt fast zu wild, um wahr zu sein. Aber wieso eigentlich nicht. Dare to dream! 

    Im Gegensatz dazu stehen digital inhumane Anwendungen, die beispielsweise Nutzer*innen bis auf die Unterhose tracken, sie überwachen, sie als reine Datenlieferanten sehen, um sie in vorgefertigte Konsumbahnen zu lenken, weil das Geschäftsmodell es eben so will. Es wird dann digital inhuman, wenn Datenschutz unterwandert wird, Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen werden, wenn Nutzer*innen Informationen vorenthalten, oder nur bestimme verfälschte Inhalte geboten werden, um sie am besten nicht zu mündigen Usern zu ermächtigen. Und so weiter und so fort.

    Aber wie informiert dieser digital humane Gedanken konkretes digitales Design? Digitaler Humanismus ist ja eine philosophische Haltung. Von der Philosophie zur konkreten digitalen Anwendung ist es ein weiter Weg. Oft steinig. Philosophie bietet Strukturen und Perspektiven, um die Welt zu verstehen, gestaltet aber noch keine Apps. Das ganze wird dann konkret von Nutzen, wenn diese Haltung zu einer leitenden Gestaltungstheorie für das Management, für Konzeptionist*innen, Entwickler*innen, und wer noch im alles im Prozess dabei ist, wird, also den Gestaltungsprozess anleitet, strukturiert, inspiriert und auf ihn einwirkt. 

    Der Einfachheit halber sind hier 3 Ebenen genannt, auf denen das aus gestaltungstheoretischer Sicht passieren kann. Diese sind wohl nicht strickt voneinander zu trennen, verwischen in Realität oft, auch wenn sie hier sequentiell dargestellt werden.

    Let’s dive into it. Zeit, diesen Begriff von der Wolke auf den Boden der Gestaltungsrealität zu holen.

    1. Ebene: Purpose, der Zweck eines Systems

    Gestaltungstheorien beeinflussen oft den sogenannten Purpose einer digitalen Anwendung, also so was wie den Zweck und damit oft verbunden den Grundnutzen eines Systems. Auf dieser Ebene geht es um Digitalstrategie: Was sollen digitalen Systeme Innovatives leisten, für welche Zwecke werden sie entwickelt und eingesetzt? … und für welche Zwecke eben nicht. 

    Auf dieser Ebene wird digital strategisch entschieden, ob zum Beispiel Technologien zur Gesichtserkennung auf öffentlichen Plätzen überhaupt eingesetzt werden und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Es geht um die Entscheidungen eines Unternehmen, welche digitalen Produkte und dahinterliegende Geschäftsmodelle es entwickeln möchte. Ob man zum Beispiel mit seinen Produkten neutral informieren möchte, oder liebe Fake-News-Systeme entwickelt. Es handelt sich um gestalterische Grundsatzentscheidungen. Diese fallen oft auf Management Ebene und stehen in Digitalstrategien.

    Beispiele: Der AI Act der EU, der biometrische Überwachung an öffentlichen Orten verbietet, ist ein Ansatz, der eine digital humane Haltung auf dieser ersten Gestaltungsebene widerspiegelt. Hier wird der Schutz der menschlichen Würde über wirtschaftliche oder sogar Sicherheitsinteressen gestellt, schließlich hätte man die Möglichkeit öffentliche Plätze minutiös zu überwachen, verbietet es aber. Aus der unternehmerischen Perspektive kann hier auch der wirtschaftsethische Ansatz der Values-based Innovation genannt werden, der eine werte- und ethik-basierte Managementphilosophie propagiert. 

    Kommen wir also langsam aber sicher auf die nächste Ebene, wo wirklich an Systemfeatures und ihrer Umsetzung gearbeitet wird. 

    2. Stufe: Systemdesign – Zwischen Freiheitsversprechen und Klick-Knechtschaft

    Auf dieser zweiten Ebene wird der Kern einer digitalen Anwendung entworfen. Dabei geht es um die Nutzer*innen, die Grundfunktionalitäten des Systems und ihre Ausgestaltung. 

    Ein humanistisches System berücksichtigt die Werte und Bedürfnisse der Nutzer*innen und bewahrt ihre Rechte und Freiheiten. Es versucht negative Auswirkungen zu vermeiden, zwingt sie nicht durch manipulative Mechanismen, wie ständig ploppende Benachrichtigungen oder übergriffige Nudges, in eine bestimmte Nutzung. Stattdessen eröffnet es Wahlmöglichkeiten und gibt Orientierung. Grundlegende Aspekte wie Datensicherheit werden sowieso eingehalten. Vor allem aber orientiert sich der Gestaltungsprozess an den Werten der Nutzer*innen, den sozialen und ethischen Kontext für den das System gedacht ist, er erkennt und vermeidet potentielle negative Auswirkungen des Systems. 

    Nehmen wir ein Beispiel: Assistenzsysteme für Senior*innen. Ein humanistisches System würde sagen: „Hey, es ist toll, wenn Oma noch ihr eigenes Essen kochen will. Wir helfen, wo die Kraft nicht reicht.“ Ein Rezept kann sie vielleicht nicht mehr ganz erinnern, da helfen wir digital mit,  binden vielleicht auch die Enkerl ein, aber das Gemüse schneiden, alles in einen Topf klopfen, die Wertigkeit des Kochens an und für sich, das erhalten wir und unterstützen wo geht. Ein inhumanes System dagegen automatisiert den Prozess komplett: Mahlzeit kommt per Drohne, drückt noch ein paar extra Empfehlungen in den Warenkorb – Oma zahlt und schaut Netflix. 

    Digitale Gestalter*innen verfügen über ein breites Spektrum an Methodiken, um im Zuge eines Gestaltungsprozesses auf diese Art und Wiese zu reflektieren. Aus dem Forschungsgebiet Human-Computer-Interaktion kommen seit 30 Jahren Methoden wie Value Sensitive Design, die diese Grundhaltung verkörpern. Inclusive Design Ansätze zählen genauso dazu, wie neuere Ansätze wie Value Based Engineering. Im Kern schlagen diese Ansätze Methoden und Vorgehensweisen vor, die helfen Apps, digitale Geräte und Services im Sinne ihrer Nutzer*innen, deren Bedürfnisse, Werte und Möglichkeiten zu gestalten und dabei die angesprochenen negativen sozialen, ethischen, rechtlichen (etc.) Auswirkungen zu vermeiden. 

    3. Stufe: Umsetzung. Menschen, packt die Werkzeuge aus!

    Jetzt wird’s richtig spannend – hier wird Digitaler Humanismus lebendig und greifbar. In Form von gut gestalteten User Interfaces, gut ausgestalteten Informationsdesigns und nachvollziehbaren Digital Service Blueprints. Die Kernaussage einer digitalen humanen Herangehensweise ist, dass digitale Systeme nicht im Elfenbeinturm der Entwickler*innen entstehen.

    Die zukünftigen Nutzer*Innen sollen in den Entwicklungsprozess einbezogen werden. Human-Centred-Design, wie die Profis sagen. Und das nicht nur, weil man nett und lieb sein will, nein, weil es die Resultate verständlicher, intuitiver und nutzbarer macht. Hier geht es darum, Nutzer*innen aktiv in den Entwicklungsprozess digitaler Systeme mitwirken zu lassen. Es gibt eine Vielzahl von Herangehensweisen dafür. 

    Mit Methoden wie Cultural Probing oder Befragungen lernt man die Lebenswelt der Zielgruppe kennen und kann diese Erkenntnisse im Gestaltungsprozess berücksichtigen. Mit Co-Creation Methodiken oder Participatory Design Ansätzen sitzen die Nutzer*innen womöglich sogar mit am Gestaltungstisch. Mit Usability Design, guten Accessibility Guidelines oder User Experience Evaluierungen stellt man sicher, dass ein konkretes digitales Design verständlich ist und gut bei den Nutzer*innen ankommt. 

    Das alles so zu tun ist manchmal langsamer, schwieriger, macht aber Sinn. Schlicht und einfach deshalb, weil das Resultat schon im Entstehungsprozess von Nutzer*innen beraten und gefeedbacked wird und so grobe Gestaltungsschnitzer von vornherein vermieden werden. 

    Man könnte also sagen, ein digitales Werkzeug ist auch dann ein humanes System, wenn es von den Nutzer*innen verstanden wird und sie es gut benutzen können. Das ist dann der Fall, wenn nicht nur Zweck und Funktionalitäten in eine digitalhumane Haltung einzahlen, sondern auch die konkrete Umsetzung eine gute Usability und Experience erreicht. 

    Digitaler Humanismus: Und jetzt?

    Digitaler Humanismus bedeutet nicht, mehr „likes“ oder „clicks“ zu generieren. Es bedeutet, digitale Systeme so zu bauen, dass sie uns fördern – nicht auslaugen. 

    Vielleicht klingt Digitaler Humanismus, der so formuliert ist, auch nur wie ein feuchter Traum der Digitalidealisten da draußen, weil viele Apps und Plattformen auf unseren Handies und in unseren Browsern genauso weit von dieser Idee entfernt sind, wie die Antarktis von Grönland, wir uns als Nutzer*innen also mit vielen Schieflagen und schrägen digitalen Praktiken schlichtweg abgefunden haben.

    Aber, die Zukunft wird nicht von Algorithmen entschieden, sondern von denen, die sie gestalten. Also, Leute aus der digitalen Innovationsszene, Entscheider*innen, UX-Designer*innen, Coder*innen und Policy-Macher*innen: Schluss mit der bloßen Theorie! Setzt die Werkzeuge an. Baut Systeme, die uns ermächtigen – statt uns zu entmachten. Es ist Zeit, dass digitaler Humanismus mehr wird als ein schickes Schlagwort. Dass das eine schwierige Sache ist, ist auch klar. Speziell in Europa, wo wir nicht Herr oder Frau über die vielen digitalen Grundsysteme sind, auf die wir aufbauen, sondern in vielen Fällen in einer Art digitalen Kolonie agieren. Trotzdem können wir in Sachen Zweck, Systemdesign und Methodik einiges tun, um digitale humane Apps, Tools und Software in Umlauf zu bringen. 

    Um Digitalen Humanismus als leitendende Gestaltungstheorie zu positionieren braucht es Gestalter*innen, die sich von dieser Haltung leiten und inspirieren lassen und das entsprechende Methodenhandwerk beherrschen. Und, was machst du? 

  • Europa als neue digitale Kolonie? Eine Analyse der Abhängigkeiten

    November 20th, 2024

    Europa ist eine neue digitale Kolonie, könnte man so sagen, und das sollte uns, wenn schon nicht beunruhigen, dann zumindest nachdenklich stimmen. Essentielle digitale Werkzeuge, weite Teile von Dateninfrastrukturen und die großen KI-Entwicklungen – die Grundlagen unserer heutigen und zukünftigen Wirtschaft, wenn nicht Gesellschaft – sind weitgehend in den Händen von nicht-europäischen Unternehmen, meistens aus den USA und immer öfter aus China.

    Wir Europäer sind stolz auf unsere Tradition der Freiheit, des Denkens, der Technik. Nur: In der digitalen Welt? Wie frei sind wir da wirklich noch? Es sieht inzwischen ja so aus, als wären wir zwar durchaus auf den KI-Zug aufgesprungen, halten mit dem Tempo mit, sind mittendrin, aber die Ausstattung des Zuges, die Beförderungsbedingungen, vielleicht sogar das Reiseziel, bestimmt jemand anders.

    Europa ist zu einer Art Digitalkolonie mutiert, durch potente KI-Modelle, luftige Cloud-Wolken und digitale Arbeits- und Alltagswerkzeuge, auf deren Grundlagen und Gestaltung wir Europäer in der Gesamtheit wenig Einfluss haben. Die Kontrolle, das Know-how, ja sogar die kulturellen Standards, liegen zunehmend woanders.

    Europa kann als riesiger Binnenmarkt und Wirtschaftsriese mit 450 Millionen Menschen durchaus seine Regeln setzen, ansagen, was geht und was nicht, setzt man digitale Technologien in der EU ein, aber reicht das auf lange Sicht? Es hat den Anschein einer Art neuer digital-kolonialer Abhängigkeit. Kann Europa in einem solchen Szenario überhaupt noch die Kontrolle zurückgewinnen?

    Was macht eine Kolonie aus?

    Historisch gesehen zeichnen sich Kolonien durch politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von einem „Mutterland“ aus, das die Kontrolle über Ressourcen und Arbeitskraft ausübt und weitestgehend die Infrastruktur der Kolonie kontrolliert. Die historische Kolonie fungierte dabei als Rohstoffquelle und war in Entscheidungsfragen oft und weitgehend machtlos.

    Weltweit finden sich Länder heute in einer nicht vollständig vergleichbaren, aber ähnlichen Lage als Abnehmer digitaler Technologien und Infrastruktur wieder. Auch in Europa. Die Cloud-Server, KI-Modelle und sozialen Netzwerke, die Bürger*innen, Stadtverwaltungen und Unternehmen tagtäglich nutzen, stammen in der Regel von außerhalb der EU und unterliegen ideologischen, rechtlichen und politischen Einflüssen aus den USA oder China – digitale „Mutterländer“, die letztlich die Regeln bestimmen.

    Die Tech-Giganten Google, Amazon, Microsoft und deren chinesische Pendants wie Alibaba und Tencent, die vielen millionenschweren digitalen Unternehmen, deren Namen wir gar nicht mal im Sprachschatz haben und mir nix dir nix aufzählen könnten, sind nicht bloß Anbieter. Sie haben uns durch ihre Oligopole an der kurzen Leine, oder besser: an der Datenleitung.

    Kernargumente: Die Mechanismen des neuen Digitalkolonialismus

    Die Mechanismen dieses neuen Digitalkolonialismus sind subtil und nicht immer klar zu erkennen. Es geht nicht mehr um Schiffe, Handelskolonnen oder den Transport und die Verarbeitung physischer Rohstoffe. Die Digitalwirtschaft ist geprägt von fließenden Verbindungen zwischen Menschen, digitalen Produkten, Know-how und Informationen – in Echtzeit. All das geschieht irgendwie parallel und gleichzeitig, stets abruf- und nutzbar, über Landesgrenzen hinweg.

    In dieser Vielschichtigkeit können wir auf den ersten Blick vielleicht souverän agieren. Auf den zweiten Blick entpuppt sich jedoch eine massive Abhängigkeit.

    Erstens: Für Europa gibt es heute keine Alternative, seine digitale Souveränität selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt kein europäisches Microsoft, keine marktmächtigen europäischen Cloudanbieter, die besten GPT-Modelle sind nicht europäisch. Ein Anbieterwechsel oder Umstieg auf „unser eigenes System“ ist also nicht, oder nur eingeschränkt, möglich. Open-Source-Lösungen sind gut, aber meistens nicht gleich produktiv und industriell einsetzbar wie kommerzielle Angebote. LibreOffice ist lieb. Wir kommen also nicht so schnell aus dieser Abhängigkeit heraus. Die europäische Wirtschaft, ja, unsere gesamte Gesellschaft, hängt an digitalen Systemen, die wir nicht kontrollieren.

    Zweitens: Historische Kolonien produzierten Zucker, Baumwolle oder Gummi – Europa heute digitale Inhalte, und vor allem Nutzerdaten. Doch die Pipelines und Speicher dieser neuen Rohstoffe gehören längst anderen. Datenzentren stehen in den USA und anderswo oder gehören nicht-europäischen Akteuren, selbst wenn sie in „good old Europe“ stehen. Das betrifft auch die Verarbeitung und Analyse dieser Daten. Es geht nicht nur um Daten jedes einzelnen Users, um unsere Vorlieben, App-Statistiken, detailliertes Klickverhalten, Nutzungs- und Verbindungsdaten. Auch unsere Infrastruktur wird zunehmend über Cloud und KI gesteuert. Denken wir zum Beispiel an eine selbstfahrende KI-Straßenbahn oder ein durch KI optimiertes Handynetz. Wenn die Cloud und KI nicht uns gehört, haben wir dann noch die Kontrolle über die Infrastruktur?

    Drittens: Die europäische Abhängigkeit wird durch KI auf eine neue Ebene gehoben. Mit ihrem nahezu uneingeschränkten Zugriff auf die besten KI-Modelle dominieren die USA und China nicht nur die Technologie selbst, sondern auch die kulturellen und wirtschaftlichen Standards, die damit verbunden sind. Europäische Unternehmen stehen vor einer unangenehmen Wahl: Entweder auf diese Technologien verzichten oder teure Lizenzen zahlen und das nutzen, was an Modellen zur Verfügung steht.

    Die EU versucht zwar, über den neuen AI Act mitzumischen und so zumindest die Rahmenbedingungen, die Transparenz und die Einsatzbereiche der KI in ihrem Einflussbereich vorzugeben, bleibt aber dennoch grundsätzlich abhängig. Wir haben weder die vollständige Entscheidungshoheit über diese Technologien noch die Freiheit, sie unabhängig zu prüfen oder anzupassen. Europa bleibt ein „Verbraucher“ dieser neuen digitalen Technologien.

    Und wieder ist hier ein ähnlicher kolonialer Eindruck zu beobachten. Weltweit verblüffen KI-Modelle mit ihren Fähigkeiten, und nicht zu Unrecht heißt es, KI werde viel an Effektivität und neuer Produktivität in Unternehmen bringen. Europa erkauft sich dabei durch Lizenzgebühren zwar Know-how und KI-Arbeitskraft, doch die Gelder fließen in die Mutterländer der digitalen Kolonialisierung und nicht in eine lokale Wertschöpfung – zum Beispiel in ein europäisches KI-Unternehmen oder in reale, europäische Arbeitskraft. Diese Abhängigkeit führt zu einem dauerhaften Kapitalabfluss und limitiert zugleich Europas digitale Autonomie.

    Viertens: Besonders alarmierend ist die politische Dimension dieser digitalen Abhängigkeit. Die Berichterstattung öffentlich-rechtlicher Medien ist durch gesetzliche Regularien zumindest in der Theorie und vom Ansatz her ausgewogen. Es gibt “no fun” Gremien wie einen Stiftungsrat, einen Publikumsrat und einen Aufsichtsrat. Es geht um Checks and Balances.

    Doch traditionelle Medien schrumpfen in ihrer Reichweite, während öffentlich-rechtliche Anbieter zunehmend unter Druck stehen. Dem gegenüber steht der ungebremste Aufstieg sozialer Medien, die insbesondere jüngere Generationen mit – sagen wir es mal so – „Nachrichten“ versorgen. Hier sind es Algorithmen, die entscheiden, welche politischen Meinungen wem zugespielt werden.

    Man muss sich vor Augen halten: Soziale Medien sind der Stammtisch des 21. Jahrhunderts. Hier werden Wahlen entschieden. Doch auf diese Algorithmen haben europäische Staaten oder politische Parteien keinen Einfluss. Sie sind weder transparent noch zugänglich. Und, wie man am Beispiel Elon Musk, Twitter/X und seinem Engagement für Trump sieht, gehören diese Unternehmen mitunter Einzelpersonen, die auf Grund ihrer persönlichen politischen Haltung entscheiden können, was in den Threads der Leute aufpoppt und was im digitalen Nirvana vergammelt.

    Unser politischer öffentlicher Diskurs wird auf privaten (USA) oder staatlichen (China), aber in jedem Fall nicht europäischen Medien, und womöglich mit Schieflage ausgetragen. Selbst der Zugang zu bezahlter politischer Werbung garantiert keine faire Verbreitung objektiver Inhalte – eine neue Form digitaler Machtkonzentration, die unseren demokratischen Diskurs fundamental herausfordert.

    Wie einst die kolonialen Mutterländer, die ideologische und kulturelle Strömungen in den Kolonien beeinflussten oder bestimmten, formen nun obskure Algorithmen unseren digitalen politischen Diskurs.

    Fünftens: Wenn man möchte, könnte man noch andere Argumente anführen, wo es dringend Grundsatzentscheidungen bräuchte. Zum Beispiel die Tatsache, dass KI und Digitalisierung als Ganzes massenhaft Energie verbrauchen, und wir Gefahr laufen, uns digitale Produktivitätssteigerungen auf Basis von Kohle und Atomenergie zu erkaufen. Oder die Tatsache, dass KI-Modelle oft unter fragwürdigen Arbeitsbedingungen trainiert werden, was zu Recht kritisiert wird. Europa will Vorreiter in Energiepolitik und Arbeitnehmerrechten sein, doch die eigenen Vorstellungen können in diesen Bereich kaum durchgesetzt werden. Warum? Weil – ich wiederhole mich – andere an der Schaltzentrale sitzen.

    Die große Frage: Wie entkommen wir der neuen digitalen Kolonialisierung?

    Der Ausweg aus diesem Labyrinth der Abhängigkeiten ist unklar. Digitale Autarkie klingt attraktiv und wird herbeigesehnt, ist aber ein tatsächlicher Kraftakt, den Europa aktuell nur halbherzig angeht. Um wirklich unabhängig zu werden, bräuchte es nicht nur europäische Plattformen und KI-Lösungen, sondern auch eine Neuausrichtung in puncto digitaler Souveränität. Das betrifft sowohl die Infrastruktur als auch die Rahmenbedingungen, um europäische Innovation zu fördern und zu schützen.

    Es gibt punktuelle Fortschritte, wie die Förderung des Aufbaus europäischer Large Language Models in europäischen Sprachen. Die EU Investiert, aber bleibt in den Volumen hinter den USA und China zurück. Reicht das?

    Europa hat die Option, eine eigenständige digitale Identität und die damit verbundene Infrastruktur konsequent aufzubauen. Das eigentliche Problem ist nicht der Mangel an technischem europäischen Know-how, sondern an politischem Willen, Investitionen und Risikobereitschaft. Europa will mitspielen, aber auf sicheren Rängen – ein Dilemma, das bremst. Doch wenn wir uns langfristig positionieren wollen, müssen wir bereit sein, digitale Großprojekte zu wagen und, wenn nötig, gegen die Interessen der mächtigen Player zu regulieren.

    Die Frage ist: Wie weit geht Europa für seine digitale Freiheit? Solange wir nur mit einer Vielzahl von Regelungen und punktuellen Vorstößen reagieren, bleiben wir die Digitalkolonie, aus der Daten und Profite der Produktivitätssteigerungen abfließen und Richtungsentscheidungen von außen kommen – während wir am unteren Ende der Liga herumdingeln.

    Es ist nicht alles im Argen

    Erstens. In Europa und Österreich entsteht ein dynamisches KI Ökosystem, das sich durch starkes Know-how im Bereich der künstlichen Intelligenz auszeichnet. Dieses Umfeld fördert die Entwicklung innovativer KI-basierter Dienstleistungen und ist ein Nährboden für zahlreiche neue Start-ups. Es ist ein Beweis für die Stärke und das Potenzial der lokalen Expertise. Von Robotics bis hin GreenTech bedeutet das Wertschöpfung und einen positiven Standortfaktor.

    Zweitens: Der Digitale Humanismus bietet einen inspirierenden Weg, indem er die Frage stellt, wie künstliche Intelligenz und digitale Technologien grundsätzlich nach dem „People-first“-Prinzip gestaltet werden können. Europa könnte hier nicht nur mitgestalten, sondern als Vorreiter eine menschenzentrierte, ethische Digitalagenda vorantreiben, die im globalen Kontext einzigartig wäre. Es geht darum, zu welchen Zwecken digitale Technologien eingesetzt werden sollen und zu welchen nicht. Wie Technologien im Sinne von Daten-, Bürger*innen- und Menschenrechten sowie humanistischen Werten gestaltet werden können.

    Doch selbst wenn Europa sich in diesen Fragen zu einer Art moralischem Anführer der Digitalisierung macht, bleibt ein entscheidendes Problem: Der schönste Digitale Humanismus bleibt ein Provisorium, wenn er auf den Serverfarmen und in den Clouds von Microsoft, Google oder Alibaba läuft. Ein solcher Humanismus ist dann vor allem eines: symbolisch.

    Drittens: Die Mobilität von Wissen und Arbeitskraft wird durch technologische Fortschritte zunehmend intensiviert. Europäische Unternehmen benötigen spezialisierte Lösungen, um global wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese werden auch gebraucht, um KI in verschiedenen Gebieten – von Infrastruktur bis Gesundheit – einsetzen zu können. Viele Expert*innen sagen heute, Europa könne durch genau diese digitale Spezialisierung punkten, etwa bei der Entwicklung fokussierter, hochqualitativer KI-Modelle oder mit spezialisierten Datenschutzlösungen, die KI Modelle auch in sensiblen Bereichen nutzbar machen.

    Klar, man kann und wird wohl sagen müssen: Wirklich kritische Daten und Anwendungen liegen auf eigenen Servern und in eigenen Rechenzentren. Wir sind die Frau oder der Herr im Haus, dort, wo es wirklich darauf ankommt. Wir können immer sagen, für manche Zwecke – etwa bei Massenüberwachung – setzen wir KI in Europa nicht ein. Wir können digital-kulturelle Standards schaffen, die uns auszeichnen. Doch was fehlt, ist die technologische Grundlage für echte, breite Unabhängigkeit – und die würde Europa den Freiraum geben, nicht nur über Menschenzentrierung zu sprechen und sie kleinteilig umzusetzen, sondern sie auch in einer digital souveränen Infrastruktur auf den Boden zu bringen.

    Ob Europa einen Ausweg finden kann, bleibt fraglich. Wir können mit einem „People-first“-Ansatz punkten, können mit Spezialisierungen unsere Nische finden. Solange der europäische Markt als attraktiv gilt, könnte Regulierung kurzfristig einen Ausgleich schaffen. Langfristig jedoch bleibt die Frage offen: Ist es wirklich möglich, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, oder verfestigt sich Europa in dieser neuartigen, digitalen Abhängigkeit?


    Disclaimer: Wichtig ist, diesen neuen digitalen Kolonialismus nicht mit den Schrecken und Unterdrückungsmechanismen des historischen Kolonialismus gleichzusetzen. Die brutale Ausbeutung, Gewalt und systematische Entrechtung, die viele Kolonialreiche prägten, stehen in keiner Relation zu den Herausforderungen, vor denen Europa heute im digitalen Raum steht. Hier geht es nicht darum, Europa als Opfer darzustellen oder einen Vergleich zu ziehen, der die historischen Dimensionen verkennt.

    Vielmehr dient die Referenz zu kolonialen Abhängigkeiten als analytischer Rahmen, um Machtverhältnisse und Asymmetrien im globalen digitalen Diskurs zu beleuchten. So wie koloniale Mächte einst über physische Grenzen hinweg ihre Interessen durchsetzten, zeigt sich heute, wie digitale Plattformen und Algorithmen neue Formen der Abhängigkeit schaffen – subtiler, aber dennoch tiefgreifend in ihrer politischen und gesellschaftlichen Wirkung.

  • Mobil und Digital: Das Grätzl im 21. Jahrhundert

    October 12th, 2023

    Ein Grätzl meint im Grunde ein paar Straßenzüge. Der Begriff Grätzl stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet so viel wie Umkreis. Als Begriff also gut 1000 Jahre und etliche Pestepidemien alt. Zeit drüber nachzudenken, ob ein Grätzl eigentlich noch das ist, was der Begriff ausdrückt.

    Klar, ein Grätzl ist keine Wiener Idee. In Köln lieben sie ihr Veedel und in Berlin schlägt man sich im Kiez die Nacht um die Ohren. Für eine Engländerin ist es die Neighbourhood, für einen Rapper schlichtweg da hood. Diese Begriffe beschreiben mehr als die Umgebung mit ihren Straßen und Häusern. Es geht um Leute, Charme und Lebensgefühl.

    Der englische Begriff hood wird übrigens auch genau so verwendet: Eine Childhood oder eine Parenthood ist kein Ort, sondern ein Zustand.  Bei der neighbourhood ist es nicht anders. Und genauso könnte man sagen, ein Grätzl ist mehr als ein Ort, es ist irgendwie ein state of being.

    Und das ist die Frage: Was ist jetzt eigentlich unser state of being, wenn wir an moderne Städte denken, die von Hypermobilität und Digitalisierung geprägt sind, zwei Entwicklung, die sich unmittelbar auf Stadtstrukturen und unser Zusammenleben auswirken? Für Stadtgestalter*innen ist es essentiell, sich die Auswirkungen dieser Entwicklungen bewusst zu machen.

    Mobil sein: Unterwegs durch den Alltag.

    In modernen Städten sind wir praktisch nicht mehr an ein Viertel gebunden, das unseren Lebensmittelpunkt darstellt. Von Arbeit über Einkaufen bis hin zu Familie und Freunden, wir bewegen uns täglich durch verschiedene Stadtteile und Nachbarschaften. Wir leben hier, arbeiten dort und unsere Freizeit verbringen wir irgendwo dazwischen. 

    Unsere täglichen Wege durch die Stadt sind unsere Lebensader. Rund 700.000 Wiener*innen sind Pinnenpendler*innen und jeder dieser tagtäglichen Wege dauert im Durchschnitt 23 Minuten. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir dabei unser Viertel verlassen, ist hoch.

    Dieses Unterwegssein, das den Alltag von vielen prägt, ist der Ausdruck unseres urbanen Lebensstils. Durch verschiedenste Verkehrsmittel sind Distanzen nicht länger, oder zumindest ein kleineres Hindernis. Unsere Wege führen uns kreuz und quer, über kurz oder lang zu verschiedenen Orten; mit der Bim, im Bus, am Rad, oder zurückgelehnt im bequemen, naturledergepolsterten und wenn man ehrlich ist vielleicht doch etwas zu breiten SUV mit Geländemodus und Allradantrieb für Großstadttarzans (shame on you). 

    Unser vertraute Umkreis ist also längst nicht mehr dieses eine, fest umrissene Stadtviertel, sondern vielmehr unser routinierter, täglicher Weg durch die Stadt, über verschiedene Orte hinweg und in vertrauten Verkehrsmitteln. Unsere individuellen Wege definieren unsere City-Experience mehr als ein alleiniges Viertel. Unser Zustand ist mobil zu sein.

    Digitalisierung: Eingehüllt in eine digitale Aura

    Die Digitalisierung beeinflusst Mobilität und stellt soziale Strukturen in modernen Städten auf den Kopf. Es ist ein digitaler Zustand des Seins, der jede und jeden von uns ausmacht. Zu hause, auf der Chaiselongue, oder unterwegs auf unseren Wegen durch die Stadt connecten wir mit Menschen und nehmen digitale Dienstleistungen in Anspruch, ohne dass wir uns aus dem Pyjama schälen, von der Couch fallen, oder aus der U-Bahn aussteigen müssten.

    Es ist eine digitale Aura, wenn man so will, die uns morgens vom ersten Griff ans Handy entlang unsere Wege quer durch die Stadt bis abends zur Gutenachtgeschichte begleitet. Sie macht Verwandte, Freunde und Arbeitskolleg*innen ständig und digital präsent, egal ob sie nebenan wohnen, oder irgendwo auf der Welt. Die Apps, die Tools, die Cloud, die News, die Podcasts und Medien sind für uns stets greifbar, ohne dabei und sprichwörtlich von unserem Weg abkommen zu müssen.

    Dadurch sind wir weniger auf Personen, Dienste und Möglichkeiten in unserem unmittelbaren physischen Umkreis eines Stadtviertels angewiesen. Unser Umkreis konzentriert sich auf unsere digitalen Geräte. Wer braucht einen Kreisler, wenn der digitale Lieferservice das Packerl Milch durch einen klitzekleinen Klick bis an die Haustür shippert? Social Media aus der ganzen Welt verankert Themen in unseren Alltag, die in unserem unmittelbaren Umkreis vielleicht gar keine Rolle spielen. Likes und Kommentare von ganz weit weg nerven genauso wie der Baustellenlärm vor dem Fenster.

    Im Grunde machen uns digitalen Werkzeuge um eine weitere Facette mobiler: Sie machen uns virtuell mobil. Als Beispiel: Wir erkunden entferne Orte auf Google Maps oder sogar in Echtzeit, ohne dabei physisch mobil sein zu müssen. Diese digitale Aura ist der Umkreis, der unseren urbanen Zustand des seins genauso prägt, wie die unmittelbaren Einflüsse aus der Stadt. Das Handy in der Tasche ist quasi das Grätzl, in dem wir uns bewegen, und diese digitalen Verbindungen gehören genauso dazu, wie unsere täglichen Orte in und Wege durch die Stadt.

    Ein Grätzl ist ein Gräzl ist kein Gräzl.

    Ein Grätzl ist also nach wie vor ein Grätzl und bezeichnet die paar Blocks mit gewissem Charme. Aber der Umkreis, den der Begriff für die Bewohner*innen dieser Grätzl einst beschrieben hat, ist längst nicht mehr der gleiche. Dieser Umkreis und state of being beschränkt sich bei weitem nicht mehr auf ein Viertel, das unser Leben in der Stadt ausmacht. Das Grätzl, in dem wir leben ist vielmehr bestimmt durch unsere tagtägliche Mobilität und durch unsere digitale Aura, die wir mit uns herumtragen, hegen und pflegen.

    Doch je mehr wir online leben und auf unseren täglichen Wegen dahinmanovrieren, weit über die Grenzen unserer Viertel hinaus, umso wichtiger sind die Ecken und Enden, an denen wir uns zu Hause und in unser hood fühlen. Es sind die digitalen und physischen Rückzugsorte, Arbeitsorte und Freizeitoasen, die das Leben in der Stadt ausmachen, auch wenn diese Plätze manchmal digital und manchmal quer über die Stadt verteilt sind. 

    Mikromobilität, die den Alltag von vielen bestimmt, und digitale Verbindungen, die uns mit der ganzen Stadt und Welt verknüpfen, verstärken die Bedeutung von Lokalität und Grätzlidentität paradoxerweise mehr denn je: Wenn wir mal wo sind, wollen wir uns dort auch wohlfühlen, unsere Habseligkeiten nahe und um uns haben.

    Gerade weil sich unser physische Umkreis erweitert, geht es darum das Lokale, die Nachhaltigkeit, Erreichbarkeit und die Lebensqualität im Viertel zu forcieren. Und es geht darum, diese kleinen, in sich funktionierenden Stadteinheiten gut nach draußen anzubinden (Sie sind ja nur eine Stadion auf den täglichen Wegen ihrer Bewohner*innen). Gerade deshalb arbeiten Stadtplaner*innen auf der ganzen Welt daran, diese Moleküle des städtischen Lebensraums neu zu denken, angepasst an die Bedürfnisse, Möglichkeiten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Beispiele sind die Superblocks in Barcelona oder die Supergrätzln in Wien.

    Grätzl im 21. Jahrhundert zu gestalten heißt aber auch digitale Stadtentwicklung zu betreiben. Alleine die ganz klassischen Behördenwege zu digitalisieren, von Meldezettel bis Unternehmensgründung, wäre fast zu kurz gedacht. Es geht um all das, was man in seinem Umkreis braucht. Das sind digitale Gesundheitsleistungen, genauso wie Angebote zur (politischen) Mitgestaltung, digitale Verkehrsinformation, Bibliotheken, Bildungsangebote, you name it. Das digitale Grätzl, das wir alle auf unseren Handies mit uns herumtragen, ist ein wesentlicher Teil unseres Stadtalltags, und genau dort sollten die digitalen Angebote auch verfügbar und zugänglich sein: Online.


  • Immer hier. Niemals dort. Warum tragbare Tools uns nicht zu mobilen Menschen machen.

    September 3rd, 2023

    Mobile Digitale Tools kommen ja so ein bisschen mit dem Versprechen daher, sie würden jede und jeden orts- und zeitunabhängig machen. Alles was wir im Alltag tun, kann mit Laptop, Handy, Web und App erledigt werden. Immer. Überall. All at once.

    Eine Werbung zeigt, wie total cool es ist, Bankgeschäfte im Tretboot auf der Alten Donau zu erledigen. Wie Amtswege lapidar im Wiener Prater aus der Welt geschafft werden. Ein Programmierer sitzt in den Alpen und tippselt seinen Code in den Sonnenuntergang hinein. Investieren Sie von der UBahn aus in Kryptowährungen! Keep the money coming! Anytime, Anywhere!

    Entgegen dieser saloppen Versprechen und den Bildern, die uns Werbungen in das Gehirn winden, haben uns digitale Technologien nicht in eine Ära grenzenloser Zeit- und Ortsunabhängigkeit katapultiert.

    Die Sache ist nämlich die: Die allermeisten von uns sind gar nicht so flexibel. Die allermeisten sind sogar regelmäßig zu den gleichen Zeiten an den selben Orten. Tagtäglich. Immer wieder. Wohnung. Arbeit. Supermarkt. Freunde. Fitness Center. Lieblingslokal.

    Ein Büromensch ist tagsüber höchstwahrscheinlich an seinem Schreibtisch, egal ob zu Hause oder im Büro, aber auf jeden Fall mit Arbeit beschäftigt. Zu einer Zeit, zu der auch andere verfügbar sind, an einem Ort, der Werkzeuge, Ressourcen und Mindset garantiert. Alles gute Gründe für keinen Ausflug zur Alten Donau, um vom Tretboot aus das alles entscheidende Investment zu tätigen.

    Egal welche Lebensentwürfe, Berufe, Verpflichtungen und Freizeitgestaltungen: Menschen haben ihre Routinen. Auch im mobilen Zeitalter. 

    So betrachtet sind wir gar nicht so die wilden Alltagsrebellen: Tinder Date am Vormittag, Micro-Abenteuer am Nachmittag, Arbeit whatever, whenever. Es ist eher umgekehrt: Wir machen meistens more of the same und leben in einem Rhythmus wiederkehrender Abfolgen. Daran haben tragbare, digitale Geräte kaum etwas geändert.

    Handy, Laptop, mobile Medien, Tools und Dienstleistungen haben nicht uns ort- und zeitunabhängig, sondern die verschiedenste digitalen Dienste mobil, und so permanent verfügbar, gemacht. Kann man deshalb immer alles überall erledigen? Theoretisch ja, Praktisch nein.

    Albert-László Barabási, ein Forscher, der Big Data nutzt, um Muster in menschlichen Verhaltensweisen zu erkennen, zeigt wie wir eMail und Messaging Tools in wiederkehrenden Rhythmen verwenden. Kurzen Zeiträumen hoher Aktivität folgen Zeiten, zu denen wir diese Tools völlig beiseite legen und nicht beachten. Forschungsergebnisse zeigen auch, dass bestimmte Inhalte, News zum Beispiel, mit Hilfe von portablen Geräten zwar oft und spontan genutzt werden, jedoch stark in Abhängigkeit davon, wo man gerade ist, zu Hause, unterwegs, oder in der Arbeit.

    Die vielen digitale Werkzeuge und die Nutzungsrhythmen, mit denen wir auf sie zugreifen, Medien, Stream, Games, Tinder, Chat und weiß der Teufel, fügen sich als neue digitale Verhaltensmuster in unsere Tage ein. Dinge, die wir immer wieder tun, finden an neuen Orten und zu neuen Zeiten statt. Bahnticket im Bett, Freundschaftsanfrage im Bad, Arbeitsmails in der Küche. Hartes Wochenende, ok, Montag doch Home-Office.

    Unsere tragbaren Geräte bündeln viele digitale Werkzeuge, die wir so immer bei uns haben. Geld, eMail, Foto, Internet, alles in Einem. Praktisch. Das macht unsere Routinen heterogener und kleinteiliger. Wir sparen uns den ein oder anderen Weg, es macht vieles direkter, spontaner, unkomplizierter, flexibler, aber eben nicht völlig schwerelos und vor allem nicht unabhängig von bestimmten Orten und Zeiten.

    Das Versprechen „Unabhängigkeit und Flexibilität“ ist also ein bisschen die Wahrheit, aber auch zu viel des Guten.

    Als Gestalter*innen sind wir nicht für moderne Normaden aktiv, konzipieren und designen nicht für Menschen, die heute hier und morgen dort sind. Der Gedanke, dass digitale Tools unsere Alltage flexibler machen, aber letztendlich Teil gewohnter Wege und Routinen sind, gibt uns ein realistisches Bild der Nutzer, die sie tagtäglich verwenden.


  • Digitale Kolonien und Emotionale Enklaven.

    July 7th, 2023

    Städte wachsen unaufhaltsam und in den Tiefen der urbanen Landschaft liegen die Lebensmodelle der Zukunft verborgen. Sie lesen es nicht zum ersten mal: Die UNO sagt, dass im Jahr 2050 68 % aller Menschen in Städten wohnen werden. 

    Internationale Migration (und Flucht vor Klima und Kriegen) nimmt zu, auch wenn es global nur 3,5 % der Weltbevölkerung sind. Das sind aber immerhin 283 Millionen Menschen oder anders gerechnet: 28 Österreichs, die unterwegs sind.

    Städte sind dabei natürlich Anlaufpunkte und Zielorte, als Zentren der wirtschaftlichen Aktivität und Knotenpunkte der Mobilität. Städte haben Anziehungskraft. The city is the place to be!

    Die Zeichen und Auswirkungen internationalen Mobilität zeigen sich in der Demographie unserer Städte. In Wien hat ein Drittel der Bürger*innen kein österreichische Staatsbürgerschaft. 42 % Prozent der Wiener*innen wurden außerhalb Österreichs geboren. 

    Im Vergleich dazu vielleicht ein Blick auf London, das doch ungleich internationaler als Wien wahrgenommen wird. Dort sind 41 % der Bewohner*innen nicht im Vereinigten Königreich geboren, 21 % besitzen keine britische Staatsbürgerschaft. 

    Als Digitalisierer*in stellt sich natürlich die Frage, welche Rolle spielen digitale Medien und Tools bei dieser Entwicklung.

    Digitale Medien, Tools und Dienstleistungen sind die Konstante in einer mobilen Welt. Sie machen vieles jederzeit verfügbar. Vor allem aber machen sie entfernte Familien, Freunde, Kulturen, vielleicht auch entfernte Politik und Regierungen, stets präsent. 

    Das gilt es zu bedenken. Die Stadt hört nicht an ihrer Grenze auf. Wir verwachsen im Schrebergarten, aber digital und emotional sind wir (auch) mit jenen Orten verbunden, von denen wir abstammen, wo wir herkommen oder uns zugehörig fühlen. Wir horten, hegen und pflegen viele kleine emotionale Enklaven, die uns über die Stadtgrenzen hinaus mit der Welt verbinden und holen so auch die Welt irgendwie in die Stadt (klingt cheesy, ist aber so).

    Here is the thing: Wir leben im 21. Jahrhundert und trotz dem digitalen Schnickschnack, Big Data und der Cloud, sind wir Herdentiere mit einem Bedürfnis an Nähe und Zugehörigkeit. Wir brauchen das digitale Ei Ei, das Gefühl, wo herzukommen und wo dazuzugehören, genauso wie das Shared Doc im We We We. 

    Und dann ist es eben so, man ist Wienerin, ist aber eben auch ein Stück Serbin, Türkin, Deutsche oder Polin. Stadtleben im mobilen und digitalen Zeitalter heißt offensichtlich sich im Hier und Jetzt im Viertel zusammenzuleben, aber auch seine Filter, Bubbles und Communities zu bedienen. No problem. 

    Problematisch sind die Stadtstrukturen, die diese Bubbles in und über die Stadt hinaus undurchlässig machen oder in sich verstärken. Dabei helfen natürlich auch die intransparenten Algorithmen der Big Tech nicht schlecht nach, die dazu verleiten in den Communities zu verharren.

    Viele Menschen sind bei diesen demographischen Strukturen aber auch von der wichtigsten Form der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen: Von Wahlen nämlich. Wir leben und arbeiten in einer Stadt, haben aber keine Möglichkeiten zur Mitsprache. Das ist sehr nahe an einem kolonialen Machtgefälle, von dem wir uns gesellschaftlich im 20. Jahrhundert lossagen wollten.

    Man kann aber was tun: Dort aktiv werden, wo Bubbles entstehen. Durch gezielte digitale Präsenz, durch Kampagnen, Angebote und Information, die zum Ver- und Zusammenwachsen in der Stadt animieren. Oder durch die Etablierung neutraler Plattformen, abseits der Algorithmen der BigTech, können wir Leute in partizipative Prozesse und zur Mitgestaltung einladen. Zu hause ist man dort wo man digital ist.

    Städte werden immer mehr zu diversen, multinationalen Orten. Diese Diversität in all ihrer Urbanität wird verstärkt durch die individuellen, digitalen Verbindungen ihrer Bewohner*innen, weit über die Stadtgrenzen hinaus. Als Digitalisierer*innen müssen wir uns diese Facetten, digitalen Hintergründe und mobilen Lebensmodelle bewusst machen. Der Wirtschafts-, Wissens- und Kulturstandort profitiert dann, wenn es uns gelingt mit einer gewissen digitalen Souveränität und Haltung eine inklusive und gerechte Zukunft zu gestalten.

  • Digitale Städte: Lokal verwurzelt, global verbunden.

    May 29th, 2023

    Wir leben heutzutage auf eine besondere Weise in einer Stadt. Wir haben unsere vertrauten Orte, die gewohnten Wege auf denen wir uns tagtäglich bewegen, unsere sozialen Netzwerke und fühlen uns mit diesem Umfeld verbunden. Die Stadt ist unser persönlicher Mikrokosmos, in dem wir unsere Identität formen und unsere sozialen Bindungen knüpfen. Doch gleichzeitig sind wir aus diesen Städten heraus global vernetzt, mit Verbindungen und Wegen, die weit über die Grenzen unserer Stadt hinausreichen.

    Für Digitalisierer*innen ist diese Perspektive von entscheidender Bedeutung. Sie setzt uns den Gestaltungsrahmen, in dem wir aktiv sind und zwingt uns auch ein stückweit über die blinkenden Geräte hinweg zu schauen und die Wechselwirkung zwischen Technologie und städtischem Raum im Gestaltungsprozess mitzudenken. Sie hilft uns zu bewerten was das Digitale mit einer Stadt macht.

    Mit zunehmender Erreichbarkeit und Präsenz des Entfernten wird das Lokale immer wichtiger. Wir lieben den City Beach in Gehweite und laufen morgen den Marathon in Stockholm. Wir stehn aufs Radischen vom Bauern ums Eck und engagieren uns emotional in der weltweiten Black Lives Matter Bewegung. Grow Local, feel Global!

    Zweifellos ist die Tatsache, dass sich moderne Städte zu Mobilitätsknotenpunkten entwickelt haben. In Städten unterwegs zu sein ist heute so einfach wie nie zuvor und natürlich ist auch der Tagestripp aus der Stadt raus, die geschäftliche Durchreise durch, oder der Touritripp in eine andere Stadt kein Problem – all das dank moderner Verkehrsmittel und Infrastrukturen. Wir versumpern heute im eigenen Grätzl und erkunden morgen die Welt.

    Ein Faktor, der diese Verbindung zwischen Lokalität und Globalität noch weiter verstärkt, sind digitale Medien. Ähnlich wie Verkehrsmittel helfen sie uns dabei, Distanzen zu überwinden und zwar in Echtzeit. In der Tat gehen manche Sozialwissenschafter sogar so weit, digitale Mobilität mit physischer Mobilität gleichzusetzen. Sie ermöglichen uns, auf virtuelle Weise unterwegs und vernetzt zu sein. 

    Wir können mit Menschen auf der ganzen Welt interagieren, Produkte und Dienstleistungen nutzen, die wir als “distanzlos” wahrnehmen, die wir online bestellen und liefern lassen, falls sie überhaupt geliefert werden müssen und nicht einfach downloadbar sind. Ohne einen Schritt zu machen, kommen Güter und Dienstleistungen bis an die Haustür (Alles theoretisch natürlich, weil praktisch werden wir ja meistens und “leider nicht angetroffen”, hirschen in den Paketshop oder läuten die Nachbarn aus den Federn, die die Lieferung entgegengenommen haben).

    In der Zeit dieses neuen digitalen Urbanismus werden räumliche Distanzen immer weniger relevant. Die physische Distanz in einer Stadt wird durch verschiedene, ineinander greifende Mobilitäten überbrückt. Die Stadt wird zu einem Netzwerk, in dem nicht nur wir Menschen einfach unterwegs sind, sondern Orte, Produkte, Dienstleistungen und Bilder naht- und distanzlos fließen. 

    Die Überwindung von Distanzen führt zur Neugestaltung und Neubewertung von ganzen Stadtgebieten. Was früher Peripherie war, ist nicht mehr außen vor und weit weg.  Es entsteht eine neue Balance innerhalb eine Stadt und auch ihrer Einzugsgebiete.

    Das gilt es natürlich zu bedenken wenn wir digital gestalten. Mit neuen digitalen Services helfen wir Städten zu wachsen und sich auszudehnen und trotzdem ein Ort kurzer Wege zu sein, wo vieles nah und manches nur ein Klick entfernt ist. Wir greifen dadurch aber wesentlich ins Stadtgefüge ein. 

    Von der ruhigen Peripherie aus, zum Beispiel in einem Home Office, lässt sich wunderbar Arbeit verrichten, ohne sich den täglichen Weg in die zentralen Büros der Stadt ergranteln zu müssen. Innenstädte mit ihren Bürovierteln verlieren so an Bedeutung, gewinnen aber womöglich im direkten Gegenzug an Relevanz, weil das Kulturangebot im Zentrum jenes in Suburbia um Meilen schlägt. Man will also trotzdem wieder hin, nur der Grund ist ein anderer.

    Und vielleicht liegt hier auch ein Problem, wenn es um nachhaltiges Verhalten geht. Das Digitale trägt potentiell zur Zersiedelung bei und schafft mehr Suburbias. Die Menschen, die dort leben, sparen (sich) im bequemen Home Office zwar den Verkehr in die Arbeit, machen aber womöglich dafür viele andere Wege stattdessen. Rebound!

    Für eine “Stadt der kurzen Wege”, in der wir lokal leben und einfach ins Globale wechseln, spielen die verschieden Straßen, Schienen, Wege und die mittlerweile vielen Mobilitätsformen mit denen wir unterwegs sind klarerweise eine zentrale Rolle. Genauso aber sind die virtuelle Vernetzung, die Medien und digitalen Tools, die wir verwenden, wesentliche Faktoren wie wir eine Stadt wahrnehmen und nutzen.

    Urbane Großräume sind engmaschige Knotenpunkte. Sie erlauben uns physisch und digital mobil zu sein und Distanzen schnell und einfach zu überbrücken, innerhalb ihrer Stadtgrenzen und weit darüber hinaus. Das verändert die Ordnung, Hierarchie und die Beziehung zwischen ganzen Vierteln, während ihre Wertigkeit und ihr Nutzen neu gemischt werden. Und Digitalisierung trägt wesentlich dazu bei.

    Wenn wir diese neuzeitigen digitalen Städte gestalten, braucht es also ein realistisches Bild wie Digitales das Wesen von Städten mitbestimmt und es gilt die Vor- und Nachteile abzuwägen. Wir gestalten für ein erstrebenswertes, modernes Leben in der Stadt: Lokal verwurzelt und trotzdem global verbunden.


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